Das Tentett um den Berliner Komponisten und Pianisten Nicolai Thärichen sticht seit 25 Jahren aus der Masse heraus. Warum, beweisen der Bandleader und seine Mitmusiker auf ihrem siebten Studioalbum „Liebe, Glück und Einsamkeit“. Thematisch geht es um die großen Gefühle, die uns im Jahr zwei nach der Corona-Pandemie begleiten. Allerdings – und das macht den Charme der Kompositionen aus - nie eindimensional, sondern aus speziellen Blickwinkeln. „Perspektivwechsel haben mich schon immer gereizt, da ich verschiedene Ebenen in die Stücke einbauen kann. Nicht nur musikalisch, sondern auch textlich, was ein großes Verdienst von Nik ist“ erklärt Thärichen mit Blick auf seinen Bandkollegen. Gemeint ist Nikolaus Leistle, der nicht nur Baritonsaxofon und Bassklarinette spielt, sondern auch einige herrliche Texte zugeliefert hat.
Im Opener beschreibt er die „Liebe“ als „Krankheit“ – als einen Zustand, der Menschen körperlich und mental überfordert. Noch skurriler geht es im souligen „Ein Lied wie mich verlässt man nicht“ zu, in dem der Perspektivwechsel auf die Spitze getrieben wird. „Ein Song, der in die Rolle eines verlassenen Partners schlüpft, um Rache am Ex zu nehmen – so etwas kannte ich bis dahin auch noch nicht“, schmunzelt Thärichen über die ungewöhnliche Idee seines Texters. Schelmisch, frivol und doch irgendwie cool mutet „Schattenpaarung“ an – eine jazzige Komposition mit deutlichen Anspielungen auf die Corona-Jahre. Wer in Zeiten von Lockdowns neue Sozialkontakte suchte, musste erfinderisch sein. „Wollen wir unseren Schatten sich zu paaren gestatten? Wir könnten mit etwas Abstand in der Sonne lesen und danach so tun, als wär‘ nichts gewesen“, schlägt der Protagonist einer Frau vor, die er auf der Straße trifft. „Ich mag solche schwarzhumorigen Texte mit doppeltem Boden und Augenzwinkern. Mich erinnert das an den Wiener Humor, der mich fasziniert und den ich schon immer sympathisch fand“, erklärt Leistle, der sich von Humoristen wie Kurt Tucholsky oder Joachim Ringelnatz beeinflusst sieht. Doch es muss nicht immer kompliziert sein. Dass es zu „Glück ist es (für K.)“ nicht viel mehr bedarf, als friedlich schlafend nebeneinander zu liegen, und auch „Einsamkeit“ eine positive Komponente haben kann, zeigt Thärichen mit seinem Arrangement der Ballade „Oh Solitude“ von Henry Purcell (1659-1695). „Oft entstehen die besten kreativen Ergebnisse, wenn man im stillen Kämmerlein die Einsamkeit zulässt und tief für sich selbst buddelt“, ist der Bandleader überzeugt. Oder man macht es wie Gitarrist Kai Brückner. Er befindet sich seit dem vergangenen Jahr auf einer ausgedehnten Solo-Segeltour über den Atlantik. Die seltenen Aufenthalte in Häfen nutzte er dazu, um Thärichen seine Gitarrenparts als Sounddateien zu schicken. Dabei stammt das herrlich groovende „Jedi Vacation“ komplett aus Brückners Feder. So sind sie eben, die Lichtschwert-Helden – können nicht einmal im Urlaub die Füße stillhalten!
Neben dem Stimmakrobaten Michael Schiefel, der mit den verschiedenen Protagonisten in den Stücken zu verschmelzen scheint, beweist Thärichen, welch feines Händchen er für Arrangements hat. Mit Balladen wie „Schlaflos“, funky Soulnummern („Liebe“) oder „Want Me“ (Text Ronald D. Laing), in dem die Bigband zur lauten Rockband mutiert. „Niki ist einzigartig. Er kümmert sich um kleinste Details und jeder Ton hat seinen Sinn. Da machen selbst die seltenen Momente, in denen er uns an die kurze Leine nimmt, großen Spaß“, sagt Leistle stellvertretend für seine acht Bandkollegen. Thärichen wiederum freut sich über eine perfekt eingespielte Band, deren Mitgliedern er – ganz nach der Devise von Duke Ellington – Stücke auf den Leib schreiben kann. „Mit einem solchen Ensemble, in dem alle nicht nur treu, sondern auch schöpferisch sind, kann ich gar nicht anders, als ein glücklicher Band-Papa zu sein“, so sein Fazit nach einem Vierteljahrhundert Tentett-Historie.
Thärichens Tentett
Liebe, Glück und Einsamkeit
Laika-Records / Label Code 07577/ Jazz, 13 Titel, 75:01 Minuten /
Digipac
35104262 / 40 117 86 24 4263 / VÖ-Datum: 11.10.2024 / Galileo Music
Communication
Format: CD
Streaming und Download auf allen Portalen ab 15.11.2024
Besetzung:
Michael Schiefel (vocals), Sven Klammer (trumpet, flugelhorn), Jan
van Klewitz (altosaxophone, clarinette), Andreas Spannagel (flute,
tenorsaxophone), Nikolaus Leistle (baritonsaxophone,
bassclarinette), Simon Harrer (trombone), Kai Brückner, Robert
Keßler (guitar), Johannes Gunkel, Andreas Henze (doublebass), Kai
Schönburg (drums), Nicolai Thärichen (piano, e-piano), Daniel Mattar
(vocals on track 13)
Aufgenommen und gemastert von Volker Greve / Dezember 2023 und
Januar 2024 in den GREVE Studios Berlin, Germany, Cover von Gero
Desczyk
Titelfolge:
1. Liebe >br> 2. Glück ist es (für K.)
3. Oh
Solitude
4. Want Me
5.Our Final Kiss
6.Jedi Vacation
7.Sch(l)aflos
8.The Man That I Once Was
9.Conception
10.Schattenpaarung
11.Ein Lied wie mich verläßt man nicht
12.Keepake Mill
13.Peace
->
Was die Jazzthetik dazu meint
->
Was Jazz thing dazu schreibt
Thärichens Tentett
No Half Measures
Laika-Records / Label Code 07577/ Jazz, 13 Titel, 72:01 Minuten /
Digipac mit Booklet
3510377.2 / 40 117 86 15 3776 VÖ-Datum: 01.11.2019 / Galileo Music
Communication
Format: CD
Streaming und Download auf allen Portalen
Besetzung:
Michael Schiefel vocals
Sven Klammer trumpet, flugelhorn
Jan von Klewitz alto saxophone, clarinet
Andreas Spannagel flute, tenor saxophone
Nikolaus Leistle baritone saxophone, clarinet
Simon Harrer trombone
Kai Brückner guitar
Johannes Gunkel double bass
Andreas Henze double bass
Kai Schönburg drums
Nicolai Thärichen piano, e-piano
Trackliste:
1. Ich hab Dir heut ein Grab gekauft 7:14
2. No Half Measures 6:43
3. Love So Strange 5:56
4. Tilda eats Chickpeas 4:06
5. Mama (still Christa) 7:06
6. Riders On The Storm 5:57
7. Max 5:20
8. Where She Waits 2:36
9. Paperback Writer 5:27
10. Choral 5:06
11. Moon River 5:34
12. Giant Leap For Mankind 5:42
13. Dream of Now 4:13
Produced by Nicolai Thärichen Recorded, mixed and mastered by Volker Greve at GREVE-Studio Berlin 2018/19 Published by Laika Records & Publishing, Cover art by Gero Desczyk
Was die Presse sagt (1, pdf)„No Half Measures“ – „Keine halben Sachen”. Nach diesem Motto lebt und arbeitet Nicolai Thärichen seit 20 Jahren. 1999 ereilte den Berliner Komponisten und Pianisten eine unerfreuliche Nachricht. Damals hatte er im Auftrag eines brasilianischen Sängers Arrangements geschrieben. Doch kurz bevor sie im Studio eingespielt werden konnten, sprang der Auftraggeber ab. Und nicht nur das: er warf seinen Arrangeur zudem noch kurzerhand aus der Band. Ein Schockmoment, aus dem Thärichen positive Energie schöpfte. „Er bestärkte mich, musikalisch auf eigenen Beinen zu stehen und von niemandem mehr abhängig sein zu wollen. Von diesem Moment an war es mein Ziel, meine eigenen Arrangements mit meinen Wunschmusikern einzuspielen. Zugleich war es die Geburtsstunde meines Tentetts“, erinnert sich Thärichen.
Thärichen's Hendrixperience Orchestra
Laika-Records / Label Code 07577/ Jazz, 12 Titel, 60:01 Minuten /
Digipak mit Booklet
3510333.2 / 40 117 86 15 3335 VÖ-Datum: 09.09.2016 / Galileo Music
Communication (D,A,CH)
Besetzung:
Nicolai Thärichen - piano, arrangementsTitelfolge:
In From the Storm 5:20 Little Wing 6:36
Castles Made of Sand 6:31
May This Be Love 5:42
Purple Haze 5:27
Bass-Intro of The Wind Cries Mary 2:37
The Wind Cries Mary 5:34
If Six Was Nine 4:05
Angel 4:56
Lord of the Wings 6:19
Crystals of Snow 4:05
Belly Button Window 3:47
Produced by Peter Cronemeyer for Laika, executive produced by Nicolai Thärichen Recorded, mixed and mastered by Volker Greve at GREVE-Studio Berlin 2014/15 Published by Experience Hendrix LLC, USA Track # 10, 11 published by Laika Records & Publishing Cover art by LaikaArt, photo © imageDisc, photos © by Oliver Potratz and Lena Ganssmann Cataloque no. 3510333.2 kindly supported by Berliner Kulturverwaltung
Was ist ein Album mit Songs von Jimi Hendrix, das komplett auf E-Gitarren verzichtet? Eine völlig absurde, in jeder Hinsicht zum Scheitern verurteilte Idee? Oder das Mittel der Wahl, um die Songs des wilden, klanggewaltigen Gitarristen aus Seattle angemessen zu würdigen? Für den Berliner Pianisten und Komponisten Nicolai Thärichen auf jeden Fall Letzteres. Mit seinem neunköpfigen „Hendrixperience Orchestra“ geht er der Musik von Jimi Hendrix auf den Grund und lässt dessen Stücke in einem völlig neuen Gewand erklingen. Eben ganz ohne verzerrte Gitarre, dafür mit Cello und drei Bassklarinetten. Die können es – wenn nötig – ebenfalls mächtig rocken und Powerakkorde regnen lassen. „Als Performer war Jimi Hendrix eine Naturgewalt, sein Sound pure Ekstase. Sein grandioses Gitarrenspiel lenkte allerdings von seinen Qualitäten als Texter und Komponist ab“, erklärt der Bandleader die Philosophie von „Thärichen’s Hendrixperience Orchestra“, das vor allem den Songwriter Jimi Hendrix feiert. Hymnen wie „Hey Joe“ (Urheber umstritten) oder „All Along the Watchtower“ (Bob Dylan) sucht man auf dem Album daher vergeblich. Stattdessen entschied sich Thärichen für die Interpretation „purer“ Hendrix-Kompositionen, darunter Evergreens wie „Purple Haze“ und „The Wind Cries Mary“, aber auch seltener gehörte Stücke wie die Ballade „Belly Button Window“. Hendrixperience Live at Jazzfest Leipzig © H. TeichmannEntstanden ist das Projekt 2012 – dem Jahr, in das zwei runde Geburtstage fielen: das 70. Wiegenfest von Jimi Hendrix, sowie der 100. Geburtstag des Arrangeurs und bekennenden Hendrix-Fans Gil Evans. Für die Leipziger Jazztage sollte Thärichen ein Programm entwerfen, das beide Jubiläen miteinander verbindet. Dafür setzte er sich zunächst intensiv mit Vita und Musik des Saiten-Virtuosen auseinander. „Mir war sofort klar, dass ich sein Werk nur dann angemessen würdigen kann, wenn ich mich möglichst weit von den Originalen entferne und ihren musikalischen Kern - in Bezug auf Jazz - freilege“. Gesagt, getan. Nachdem er hier die Taktart, dort Tempo und/oder Tonart verändert hatte, leuchteten die Songs bereits ganz anders als die Originale. Als kluger Schachzug erwies sich dabei die Entscheidung, die Arrangements in großer Besetzung einzuspielen - bestehend aus drei (Bass)Klarinetten, Cello, Kontrabass, Schlagzeug, Klavier, sowie Marimba- bzw. Vibraphon. Schnell wurde klar: in Bezug auf Klangvielfalt sind einem solchen Ensemble kaum Grenzen gesetzt. Es kann rockig angelegten Songs wie „Purple Haze“ und „In From the Storm“ musikalische Durchschlagskraft verleihen, Balladen wie „Little Wing“ filigrane Texturen und schillernde Farben. Einen weiteren Glücksgriff tat Thärichen mit der Sängerin Lea. W. Frey. Ihre enorm wandlungsfähige Stimme verleiht den Arrangements einen ganz eigenen, persönlichen Charakter. Doch was auf dem Album so einfach und selbstverständlich klingt, benötigte eine akribische Vorbereitung. „Hendrix reichen wenige Worte, um das, was er erlebt hat, sehr intensiv zu besingen. Diesen Texten musste und durfte ich mich hingeben, mich in ihnen verlieren. So ähnlich wie ein Schauspieler, der in seine Rolle eintaucht“, beschreibt die Berliner Sängerin den künstlerischen Prozess, den sie durchschritt. Dass sich Hendrix in einem Interview einmal als „verkannten Songwriter“ bezeichnete, kann Frey nach ihrem intensiven Textstudium gut verstehen. „Er baut starke Bilder und mystische Welten, bleibt dabei aber immer schlicht und dicht bei sich selbst. Wenn er singt, klingt es so, als ob er während des Gitarrespielens eine Geschichte erzählt, die er in diesem Moment erlebt. Das ist alles immer unglaublich stark, gleichzeitig unaufdringlich und lässig bei ihm“, so Frey. Als Paradebeispiel hierfür dient „The Wind Cries Mary“. Ein Stück, dem ein vergleichsweise banales Ereignis vorausging. Als sich Hendrix über die Qualität ihres Essens beschwerte, verließ seine Freundin fluchtartig das Apartment. „Aus einem derart nichtigen Anlass einen so poetischen, vielschichtigen Text zu entwickeln - das ist große Kunst“, findet Nicolai Thärichen, der in seiner Interpretation mit schillernden Harmoniefolgen eine zweite Ebene unter der Geschichte dieser verloren geglaubten Liebe schafft. Auch in „Castles Made of Sand“ verbindet er die textliche mit der musikalischen Ebene auf elegante Art, indem er neben den Holzbläsern weiteres „Holz“ erklingen lässt. Durch Kontrabass und Cello etwa, die am Corpus geschlagen werden und das virtuose Marimbaphon-Solo von Franz Bauer, das Assoziationen an Indianer spielende Kinder weckt, um die es in der zweiten Strophe des Stückes geht. Zwei Eigenkompositionen runden das kurzweilige Debut von „Thärichen’s Hendrixperience Orchestra“ geschmackvoll ab: das instrumentale „Lord of the Wings“, sowie das stimmungsvolle „Crystals of Snow“, das von den drei legendären Textzeilen inspiriert wurde, die die Gitarren-Ikone offensichtlich kurz vor seinem Tod auf einen Zettel in seinem Londoner Hotelzimmer gekritzelt hatte. Zwei Stücke, mit denen Nicolai Thärichen eindrucksvoll beweist, dass in Sachen Jimi Hendrix längst noch nicht alles erzählt ist – weder musikalisch noch textlich.
"Die subtil reduzierten Balladen kommen am besten." Detlef Kinsler, Frankfurt Journal, 06 2016
"Hendrix leuchtet unter seinen Händen anders: filigraner, farbiger. Und dennoch rockt es. Auch ohne Gitarre." Reinhard Köchl, Jazz thing 115
"Und mit Lea W. Frey, die den
Gesang auch lebt, ist eine vielseitige Vokalistin mit von der
Partie, die sich wie ein musikalisches Chamäleon traumhaft sicher
durch die allermeisten der zehn Hendrix-Stücke und der zwei
Eigenwerke des Bandleaders bewegt. Das Nonett lässt es rocken
(„Purple haze"), zu Beginn sphärisch rauschen, dann jazzig
aufleben und schließlich entrückt aushauchen („The wind cries
Mary"), balladesk langsam schillernd ansteigen („Little wing")
oder rein instrumental Sixtie-Movie-Flair aufleben sowie
witzigschräg mit Bluespatterns angehen („Belly button window")."
Michael Schaust, Jazz
Podium Sept. 2016
NDR Info Play Jazz: Album der Woche (05.09.-08.09.16). Christan Erber stellt das Album vor (mp3).
Format: CD
Streaming und Download auf allen Portalen