Manchmal sind es die kleinen Momente, aus denen etwas Großes
entsteht. Momente voller Magie und Telepathie. So wie sie der
Berliner Komponist und Keyboarder Tim Sund vor drei Jahren auf
einem Jazz-Workshop in der Bundeshauptstadt erlebte. Auf der
Setlist für das Dozentenkonzert, für das er die musikalische
Leitung übernommen hatte, stand unter anderem „Butterfly“ von
Herbie Hancock. von Herbie Hancock. Eine Komposition mit einem
eingängigen Motiv, die jedoch auch viel Raum für musikalische
Interaktion und Interpretation lässt. „Das blinde Verständnis
der Beteiligten auf der Bühne färbte schnell auf das Publikum
ab, das von diesen magischen Momenten ebenso fasziniert war wie
wir“, erinnert sich Sund an diesen besonderen Abend. An
dessen Ende stand die Idee, sich intensiver mit Hancocks
Schaffensperiode der frühen 1970’er Jahre zu beschäftigen. „Butterfly
Effect“ lautet konsequenterweise der Titel des Albums, mit
dem Sund dem US-amerikanischen Ausnahmepianisten und langjährigen
Weggefährten von Miles Davis Tribut zollt.
Bis auf das Titelstück stammen sämtliche Stücke aus der
sogenannten „Mwandishi-Phase“.Eine Zeit, in der Hancock vom
Klavier auf das E-Piano wechselte und mit diversen Synthesizern
und Klangeffekten (z.B. mittels Ringmodulator und Delays)
experimentierte. Neben „Mwandishi“ (1971) gehören die
beiden Alben „Crossings“ (1972) und „Sextant“ (1973)
in diese Phase, die - selbst unter professionellen Musikern -
vergleichsweise unbekannt sind und für Hancock kommerzielle Flops
bedeuteten. Künstlerisch waren sie für ihn umso wichtiger. „Hancock
war schon immer – wie man heute sagen würde – ein
Elektronik-Nerd, der auf diesem musikalischen Feld Pionierarbeit
geleistet hat. Bevor er sich professionell der Musik zuwandte,
hatte er Elektrotechnik studiert. Letztlich war es dann Miles
Davis, der ihn eines Tages bei einer Studio-Session dazu
verdonnerte, statt auf dem Klavier auf dem Fender Rhodes zu
spielen. Und Hancock verliebte sich sofort in diesen Klang“,
weiß Sund.
Klanglich und stilistisch erinnern viele Stücke der
Mwandishi-Phase an „In a Silent Way“ – das erste
Fusion-Album von Miles Davis. Für dieses Album hatte Hancock –
neben Joe Zawinul – am Fender Rhodes Platz genommen. In den
Monaten danach formierte Hancock nach und nach seine eigene Band,
zu der unter anderem Julian Priester (Posaune) und Benny Maupin
(Saxofon) zählten. „In diesem Ensemble ging es natürlich um
Musik, aber auch um gemeinsame spirituelle Erfahrungen“,
erklärt Sund mit Blick auf die Jahre, in denen sich Hancock und
seine Mitspieler mit der buddhistischen Lehre befassten. Auch
musikalisch ging es experimentell zu – mit spacig und leicht funky
anmutenden, elektronischen Klangcollagen und viel Raum zum
Improvisieren.
Für Sund, der auf „Butterfly Effect“ ein halbes Dutzend
dieser Stücke neu arrangiert hat, bedeutete das einen
künstlerischen Drahtseilakt – und akribische Feinarbeit. „Bis
auf ‘Butterfly‘ gab es zu keiner
Komposition Noten oder Sheets, da sich niemand bis dahin die
Mühe gemacht hatte, diese Kompositionenzu
transkribieren. Also setzte ich mich hin, analysierte die Stücke
sorgfältig und überlegte,wie ich diesen musikalischen
Rohdiamanten etwas mehr Struktur verleihen könnte“,
schildert Sund den Entstehungsprozess des Albums, mit dem er die
Originale in neuem Glanz erstrahlen lässt.
Schon der Opener zeigt auf beeindruckende Weise, welche
grandiosen, stimmungsvollen Klanggemälde Sund mit seinem Nonett –
bestehend aus der Creme der Berliner Jazzszene und Gästen aus New
York und Australien - entstehen lassen kann.„Hidden Shadows“
ist ein musikalisches Kraftpaket mit packendem Groove, eingehüllt
in einen Bigband-artigen Sound. Im einen Moment röhrt die
Besetzung aus E-Gitarre, Trompete, Saxofon, Flöte und Basstposaune
famos, im nächsten Moment zirpt und flirrt es gehörig, wenn Sund
am Moog seine Effekte einstreut. Eine perfekte Fusion aus
akustischen und elektronischen Klangwelten, die mit jedem
Durchlauf neue Nuancen und Details für die Zuhörenden freigibt.
Dass sich selbst aus vergleichsweise wenig Ausgangsmaterial eine
packende musikalische Geschichte erzählen lässt, beweisen Sund und
seine Spielgefährten in „Ostinato/Nefertiti“. „Bis auf
das sich wiederholende Bassmotiv, das Ostinato, gab es keine
Fixpunkte, an denen wir uns hätten halten können“, erinnert
sich Sund, dem jedoch ein anderes Detail auffiel. Im
Original-Ostinato zitiert Hancocks Trompeter, Eddie Henderson, das
Motiv von „Nefertiti“ – dem Stück, das Wayne Shorter einst der
ägyptischen Königin Nofretete gewidmet hat. „Diesem dezenten
Hinweis wollte ich mehr Platz einräumen, deshalb habe ich in
meinem Arrangement beide Stücke kombiniert“, erklärt Sund.
Am Anfang und Ende des Stückes sind gesampelte Klänge einer
analogen Schreibmaschine zu hören, die das Geschehen auf eine
weitere Ebene transportieren. „Ich hatte das Bild von einem
Schriftsteller im Kopf, der in den 1970èr Jahren an seinem
Schreibtisch sitzt und seine Geschichte zu Papier bringt“,
erklärt der Berliner Keyboarder, für den die Arbeit an „Butterfly
Effect“ ein – in jeder Hinsicht – Horizont erweiterndes
Projekt war. „Der Prozess hatte für mich eine enorm befreiende
Wirkung, weil ich die Gelegenheit hatte, Klänge und Sounds
auszuprobieren, von denen ich vorher nie auf die Idee gekommen
wäre, sie zu verwenden.“
Doch nur auf diese Weise ergeben sich eben diese seltenen,
magischen Momente, aus denen Großes entstehen kann. Ein Album, das
man schon zu Jahresbeginn zu den (deutschen) Jazz-Highlights 2019
zählen kann.